PD Dr. med. Thomas Schang ist der neue Vorstandsvorsitzende der Agentur deutscher Arztnetze (AdA). Bei den regulären Vorstandswahlen stimmte die Mehrheit der Mitglieder auf Vorschlag des bisherigen Vorsitzenden Dr. Veit Wambach für den Facharzt für Chirurgie. Schang steht aktuell auch dem Ärztenetz Eutin-Malente e.V. und dem Dachverband der Netze in Schleswig-Holstein vor. Was kann er uns zu den von ihm für seine Amtszeit bei der AdA geplanten Themen sagen? Welche Ziele und Wünsche verbindet er mit seiner Vorstandschaft?

Interview mit Dr. Thoman Schang

Herr Dr. Schang, welches Tätigkeitsspektrum deckt die AdA ab?

Dr. Schang: Die AdA vertritt die Anliegen der Mitgliedsnetze gegenüber der KBV, der BÄK, den Kostenträgern und der Gesundheitspolitik und sucht das Gespräch mit den Genannten. Die AdA versteht sich zudem als Arbeitsplattform zum Austausch der Netze untereinander und unterstützt Netze bei der Professionalisierung.

Was antworten Sie einem Netz, das sich nicht für eine Mitgliedschaft entscheiden kann?

Dr. Schang: Ich selbst habe in der Vergangenheit durchaus vom persönlichen Kontakt mit anderen Netzen profitiert und meinerseits gerne anderen Netzen unsere Ideen bis hin zu kompletten Anträgen oder Handbüchern weitergegeben. Ich wünsche mir, dass das bei den AdA-Mitgliedern selbstverständlich sein möge. Und ich wünsche mir auch, dass Netze nicht nur eintreten, um zu profitieren, sondern auch eintreten, weil sie den Wunsch haben, andere Netze zu unterstützen und damit die Netzidee zu verbreiten. Netze denken da hoffentlich anders als profitorientierte Konzerne. Es muss ja nicht sein, dass jedes Netz das Rad immer wieder neu erfindet.

Das geplante Terminservice- und Versorgungsgesetz

Wie ist Ihre Position zum geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)?

Dr. Schang: Ich gehe hier nur auf die wichtigsten Punkte des TSVG ein:

1. Liposuktion bei Lipödem = „Entmachtung“ des G-BA
Erst sehr spät im Gesetzgebungsverfahren wird ein systemändernder Antrag vom Minister gestellt: Die Entscheidung zur Aufnahme von Leistungen in den GKV-Leistungskatalog soll beim Ministerium liegen, unabhängig davon, ob der G-BA sich damit bereits befasst hat oder was er empfohlen hat. Ausdrücklich sollen auch Leistungen ohne klaren Wirkungsnachweis vom Ministerium in den Katalog aufgenommen werden können. Das Ministerium soll auch gleich die Art und Höhe der Vergütung festlegen können. Selbst Entscheidungen mit bisheriger Zustimmungspflicht durch den Bundesrat soll der Minister selbst fällen dürfen.Damit wird der G-BA praktisch bedeutungslos und das Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zum zentralen Steuerungsinstrument. Auch Länderrechte werden zugunsten einer Zentralisierung beschnitten. Dies ist durchaus ein Baustein auf dem Weg zum Zentralstaat und eine Abkehr von den allgemeinen Prinzipien der Selbstverwaltung und Mitverantwortung aller gesellschaftlichen Player. Es geht also ganz grundsätzlich um ein wichtiges Stück Demokratie. Festgemacht wird das am konkreten Fall der Liposuktion bei Lipödem. Der Gesetzentwurf schiebt hier einen konkreten Fall vor, bei dessen Annahme gleich ein Eckpunkt der Selbstverwaltung beerdigt werden soll.

Wenn man das Prinzip des Interessenausgleichs für zu langwierig hält, muss man sich vergegenwärtigen, welche Nachteile in einer rein politisch gesteuerten Entscheidung zur Gesundheitsversorgung liegen. Auch ein Minister hat eine Reihe von Interessen, die ggf. nicht immer fachbezogen sind.

Dem Minister ist allerdings der Wunsch zu rascheren Entscheidungsstrukturen zu Gute zu halten. Dies lässt sich aber auch ohne Gesetzesänderung bewirken, indem Entscheidungsaufträge mit Frist an den G-BA ergehen. Bei Verfehlen der Frist ist auch heute schon eine Ersatzvornahme durch das Ministerium möglich.

2. 25 Pflichtsprechstunden
Meine Kritik richtet sich hier weniger an die (überflüssige) Erhöhung der Anzahl der Pflichtsprechstunden als an den verfehlten Ansatz zur Problemlösung.Versicherte beklagen einen unzureichenden Zugang zu Facharztterminen. Verglichen mit anderen Ländern ist der Zugang zu Facharztterminen in Deutschland zwar wesentlich einfacher, aber dennoch gibt es Wartezeiten. Diese Wartezeiten beruhen allerdings nicht auf einer Arbeitsunlust der Ärzte, sondern teilweise auf Budgetierung und teilweise auf relativer Knappheit der Zeitkontingente der Praxen.

Relative Knappheit meint: das bestehende Vergütungssystem begünstigt eine regelmäßige Einbestellung möglichst vieler Patientinnen und Patienten. Diese halten das nach jahrzehntelanger Praxis auch für normal. Das ist der entscheidende Grund für die höchste Anzahl an Arztkontakten im internationalen Vergleich. Weiterhin bedingt der ungeregelte, ungesteuerte Zugang zu Leistungen eine ineffiziente Nutzung der Kapazitäten. Bisher wollten wir uns das im Namen der freien Arztwahl aber so auch leisten.

Eine Vergütung, die weniger abhängig von einer Leistungsmenge wäre und stattdessen auf der Übernahme tatsächlich notwendiger Versorgung in definierter Qualität beruhte, könnte erhebliche Ressourcen in den Praxen freisetzen. An dieser Grundproblematik ändert eine erhöhte Pflichtstundenzahl gar nichts.

Eine Diskussion zu einer besseren Patientensteuerung und zu grundsätzlich anderen Vergütungssystemen wäre daher besser, um die Probleme zu lösen.

3. 116117 und Terminservice 24/7
Die Ausweitung der 116117 und des Terminservice (mit konkreter Terminvereinbarung) auf 24/7 beabsichtigt eine bessere Patientensteuerung und erscheint daher grundsätzlich positiv. Die extrabudgetäre Besservergütung für Termine über den Terminservice ist positiv, wenn damit tatsächlich zusätzliche Termine angeboten würden. Zu befürchten ist aber auch ein Anreiz zur Verschiebung regulärer Termine in den Terminservice. Im Extremfall würden alle in Frage kommenden Termine millionenfach nur noch über den Terminservice erfolgen. Das wäre finanziell und ressourcenmäßig kontraproduktiv für die Versorgung außerhalb des Terminservice. Glücklicherweise richten sich Ärzte viel weniger nach finanziellen Überlegungen im Praxisablauf und machen deshalb zumeist einfach weiter wie bisher. Diese Entwicklung müsste aber gezielt beobachtet werden.

4. Zugang zu Psychotherapie
Eine weitere vorgeschaltete Instanz zur Genehmigung der Psychotherapie ist kontraproduktiv. Die jetzige, erst vor einem Jahr verabschiedete Psychotherapie-Richtlinie mit „Sprechstunden“, probatorischen Sitzungen und Genehmigungsvorbehalt der Kassen stellt bereits ein weit gehendes Steuerungsinstrument dar. Noch weitere Hemmnisse zur Inanspruchnahme der Versorgung würden eine unzumutbare Belastung psychisch Kranker darstellen. Das würde zu einer Verschlechterung der Versorgung führen – mit erheblichen gesellschaftlichen Konsequenzen.

5. MVZ–Gründereigenschaft für Praxisnetze
Mit dem TSVG soll es auch für Praxisnetze möglich werden, ein MVZ zu gründen. Die Möglichkeit, dass anerkannte Praxisnetze in den Kreis möglicher MVZ-Gründer aufgenommen werden, ist positiv. Negativ ist die Beschränkung auf unterversorgte Gebiete.

MVZ-Gründung durch Praxisnetz und Kapitalinvestoren

Was bedeutet diese MVZ–Gründereigenschaft ganz allgemein und konkret für Netze, Netzärzte, Patienten, KVen und Kassen?

Dr. Schang: Netz-MVZs in der Hand verantwortlicher regionaler Ärzte können zur langfristigen Sicherung der Versorgung in ärztlich freiberuflicher Hand beitragen. Auch die Netzaufgabe einer koordinierten kooperativen Versorgung lässt sich so optimal darstellen. Zudem kann eigenes fachübergreifendes Personal wie Wundmanager, Casemanager und NäPAs eingestellt werden.

Negativ ist dabei allerdings die geplante Beschränkung auf unterversorgte Gebiete zu bewerten. Ärztenetze werden damit nach dem vorliegenden Gesetzesvorschlag mit ihren MVZ auf Regionen mit hohem unternehmerischem Risiko beschränkt. Kapitalinvestoren sollen dieser Beschränkung nicht unterliegen.

Ein Netz-MVZ in der Hand regionaler Ärzte, die sich der regionalen Versorgung verpflichtet fühlen, ist m. E. die bessere Alternative zu einem MVZ in der Hand von Kapitalinvestoren sein. Ein Netz-MVZ sollte daher nicht nur als letzte Option zur Versorgung einer unterversorgten Region gesehen werden. Es sollte im Gegenteil ein Instrument sein, eine faktische Unterversorgung im Vorfeld zu vermeiden.

Wie nehmen Sie die Aktivitäten kapitalgeleiteter Investoren in der ambulanten Versorgung wahr?

Dr. Schang: Kapitalinvestoren haben längst auch die ambulante Medizin als lukrativen Markt entdeckt. Im Rahmen der geltenden Gesetze ist das legitim. Wenn wir uns eine andere Versorgung wünschen, sind wir gefragt, etwas anders zu gestalten. Wir können uns nicht für alle Zukunft auf Schutzzäune verlassen, die andere für uns errichten sollen. Aber eben diese Gestaltungsräume hätten wir gerne.

Ärztenetze als Leistungserbringer

Gibt es aus Ihrer Perspektive auch Gründe gegen einen Leistungserbringerstatus für Ärztenetze?

Dr. Schang: Die Schaffung eines zusätzlichen „Leistungserbringers Ärztenetz“ könnte grundsätzlich zu einer Leistungsausweitung führen. Es kommt also darauf an, Netzen sinnvolle Leistungen zuzuordnen, die bisher fehlen. Das sind im Wesentlichen Koordinationsaufgaben: Management von Versorgungspfaden und praxisübergreifende Versorgung (Wundmanager/innen, Casemanager/innen, Projektmanager/innen).

Netzmanagement ist in unserem Vergütungssystem nicht als Versorgungsleistung anerkannt und wird somit bisher nicht kostenmäßig abgebildet. Netzförderungen sind ein sehr guter Anfang zur Finanzierung von Netzmanagement, aber eben erst ein Anfang.

Koordinationsaufgaben sollten Behandlungsverläufe effizienter machen und überflüssige Versorgungskosten für Kostenträger und Leistungserbringer gleichermaßen vermeiden. So gesehen sehe ich nur Vorteile in einem Leistungserbringerstatus für Netze.

Wichtig ist aber eines: Ein Netz sollte nie den Charakter einer Gemeinschaft von regional verankerten Persönlichkeiten mit Engagement für die Versorgung ihres Umfeldes verlieren. Es geht um nichts weniger als um Bürger-Engagement. Das schließt etwa ein Netz in der Hand von externen Kapitalinvestoren aus. Man kann dDr. Schang: as für naiv halten. Aber die finale Alternative zu Netzen ist nun einmal eine durchökonomisierte Konzern-Medizin.

Welche Perspektive sehen Sie für die Netze über die gesamte Bundesrepublik hinweg?

Netze sind grundsätzlich eine regionale Angelegenheit. Dennoch können und sollten Grundstrukturen und Erkenntnisse aus regionalen Versorgungsprojekten bundesweit geteilt werden. Netze sind eine Graswurzel-Bewegung und gerade das macht ihren Charme aus. Bundesorganisationen wie die AdA können niemals eine Hierarchie vorgeben, sie können aber Ideen, Interessen und Anliegen bündeln.

Zukünftige Bedeutung der Praxisnetze

Welche Bedeutung werden die Netze in 10 Jahren für die Versorgung haben?

Dr. Schang: Vorhersagen sind bekanntlich schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Ich halte es aber für möglich, dass Netze sich noch mehr als bisher mithilfe von zielgerichtetem Management um eine Optimierung der regionalen Versorgung im Sinne der regionalen Bevölkerung kümmern können. Das bedeutet viel Arbeit, die sich nicht immer in Euro und Cent auszahlen wird.

Dazu gehören Management-Tools wie versorgungsorientierte Qualitätsindikatoren und eine sinnvolle Nutzung der Digitalisierung. Dazu gehören aber auch neue Ideen zu fach-und sektorübergreifenden Vergütungsformen, die kooperative Leistungen nicht benachteiligen.

Letztlich entscheidend wird aber die Einstellung der dann tätigen Leistungserbringer sein: Begreife ich mich als Einzelkämpfer oder als Teil eines regionalen Teams? Diese Einstellung wird mitentscheiden, welchen Stellenwert die Freiberuflichkeit von Ärztinnen und Ärzte zukünftig noch haben wird.

(DPN-SH Red.)